16 Dez. Terrorismus hat keine Religion
Auf Abstand – aber nur räumlich. Von rechts: Selma Emekci, Gerd Baltes und Markus Eichler. Martin Schulte stellt die Fragen.
© Bernhard Kreutzer
VIERNHEIM
INTERVIEW WIE DAS FORUM DER RELIGIONEN OHNE PERSÖNLICHE BEGEGNUNGEN ZURECHTKOMMT – UND WELCHE GEDANKEN ES NACH ISLAMISTISCHEN ANSCHLÄGEN GIBT
Viernheim.Das Forum der Religionen in Viernheim lebt von der Begegnung von Menschen mit verschiedenen Religionszugehörigkeiten. Aber was bleibt von diesen Begegnungen in dieser Pandemie mit den gebotenen Abstandsregeln und Veranstaltungsverboten? Und: Gibt es so etwas wie mangelnden Integrationswillen? Auch darüber sprechen wir mit Selma Emekci, Pfarrer Markus Eichler und Gerd Baltes. Alle drei sind beim Forum der Religionen engagiert.
Gerd Baltes: Das Forum ist vor vielen Jahren aus dem Viernheimer Beteiligungsforum entstanden. Das drückt schon aus, dass Viernheim sich bereits vor vielen Jahren auf Migration und Vielfalt eingestellt hat. Es hat sich daraus ein Vielfaltskonzept mit verschieden Bausteinen entwickelt. Ein Baustein ist das Forum der Religionen. Wir haben den kommunalen Auftrag, verschiedene religiöse Gruppierungen zusammenzuführen. Es geht darum, sich kennenzulernen, Informationen auszutauschen und bei diversen Aktionen gemeinsam zu handeln. Für ein gemeinsames, friedliches und kooperatives Zusammenleben in Viernheim.
Was ist aus diesem persönlichen Austausch geworden, seit wir mit dem Coronavirus leben?
Herr Eichler, die evangelische Kirche in Viernheim ist dabei beim Forum der Religionen. Wie erleben Sie aktuell die religionsübergreifenden Begegnungen, auch betrachtet unter der Überschrift Integration?
Markus Eichler: Gottesdienste sind ja im Moment im sehr kleinen Rahmen erlaubt, das war beim ersten Lockdown nicht so. Aber insgesamt muss Begegnung im Moment alternative Formen finden. Zum Beispiel im Digitalen. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass unsere Landeskirche einmal so digital wird und Synoden oder Pfarrkonferenzen per Zoom stattfinden. Wir lernen jetzt die Wohnzimmer der Kollegen kennen (lacht).
Aber was ist mit den Begegnungen, gehen Ihnen Schäfchen verloren bei dem Versuch, interreligiös Verständnis zu wecken? Braucht Ihre Arbeit nicht auch Kontinuität?
Eichler: Ich denke, wir sind so eine gute Gruppe, dass wir das schaffen, vorübergehend auch ohne die üblichen Veranstaltungen. Aber wir dürfen auch nicht unterschätzen, dass im Moment ein sehr wichtiger Aspekt fehlt. Das ist richtig. Aber ich glaube schon, dass wir den Kontakt gut halten können und dass es uns gelingen wird, in einem guten Austausch zu bleiben. Zum Glück gibt es die digitalen Medien. Ich sehe aber auch eine Chance in dieser Herausforderung: Es ist die Probe, inwieweit da etwas gewachsen ist. Ich nehme wahr, dass mittlerweile so viel gewachsen ist, dass wir diese Probe bestehen können.
Frau Emekci, Sie sprechen ein vorzügliches Deutsch . . .
Selma Emekci: . . . Danke. Sie auch.
Ich bin hier und da schon auf Unmut gestoßen, wenn ich einen Menschen mit ausländischen Wurzeln frage, warum er so gut Deutsch kann. Viele finden die Frage einfach doof. Und Sie?
Emekci: Ich finde die Frage nicht doof. Ich finde es seltsam, dass es Menschen gibt, die die Frage doof finden. Ich verstehe es, wenn man die Frage stellt. Nämlich dann, wenn man von einem Bild von Migranten ausgeht, wie es vor 30 oder 40 Jahren hier herrschte. Wenn ich an meine Eltern denke zum Beispiel. Mein Vater kam wegen seines Berufs ganz gut mit der Sprache zurecht. Meine Mutter hatte nie die Möglichkeiten, sich so zu integrieren, dass sie sich auch mit der Sprache hätte intensiv beschäftigen können. Sie hat vier Kinder großgezogen und war froh, mit diesem Kulturwechsel – herausgerissen aus der türkischen Heimat und Neubeginn in Deutschland – einigermaßen klarzukommen. Natürlich sehe auch ein Versäumnis darin. Nur wenn Sie wie ich mit fünf Jahren hierherkommen und die gleiche Schullaufbahn durchleben wie ein hier geborenes Kind, ist das eben anders. Bei mir kommt eine große Sprachaffinität dazu. Ich spreche einige Sprachen.
Welche?
Emekci: Türkisch, Deutsch, Englisch, Französisch, ein bisschen Spanisch, und ein bisschen bosnisch-jugoslawisch. Ich habe das große Latinum. Seit einem Monat versuche ich, Arabisch zu lernen.
Was hat Sie dazu motiviert?
Emekci: Ich war gerade so zehn oder zwölf, als ich begriffen habe, dass Sprache ein gutes Mittel ist, um an Menschen heranzukommen.
Wien, Nizza und Straßburg sind jüngste Schauplätze islamistischer Terroranschläge. Was tut sich in Ihnen, einer aufgeklärten, klugen Frau mit muslimischen Wurzeln, die integrieren will, wenn Sie diese Nachrichten hören?
Emekci: Mein aller erster Gedanke, wenn eine solche Nachricht hochkommt, ist wirklich immer: Bitte, lieber Gott, lass’ es keinen Muslim gewesen sein. Weil ich genau weiß, dass ich als Muslimin in meinem Umfeld damit konfrontiert werde.
Wie?
Emekci: Ich werde zum Beispiel gefragt, was ich von der Tat halte, weil es ein Muslim war.
Die Forderung, muslimische Institutionen und Gemeinden sollten sich von den Terrorakten distanzieren, kommt reflexartig.
Emekci: Diese Forderung habe ich nie verstanden. Ich verstehe, dass von Menschen erwartet wird, sich entschieden gegen Terror und Gewalt auszusprechen. Aber die Forderung zur Distanzierung hat sich mir nie erschlossen. Ich kann mich nur von etwas distanzieren, zu dem ich vorher eine Nähe hatte. Und ich fühle mich Terrorismus nicht nah. Ich finde, Terrorismus hat keine Religion. Sie wird aber dafür missbraucht.
Herr Eichler, woher kommt dieser Reflex? Geht es hier um Sippenhaft?
Eichler: Ja, ich glaube, es ist so etwas wie Sippenhaft, und ich glaube, dass es an einer gewissen Unkenntnis liegt. Viele Menschen kennen religiöse Inhalte heute gar nicht mehr, das sehe ich sehr kritisch. Hier werden Dinge in einen Topf geworfen. Das betrifft alle Religionen, Fanatismus tritt überall auf. Es ist wichtig, zu unterscheiden, was aus Fanatismus und was aus einer Religion heraus entsteht. Darum ist das Forum gerade so wichtig: um Religionen kennenzulernen, um Inhalte zu erfahren und auch die Menschen kennenzulernen.
Erleben Sie als deutscher Pfarrer mit mehrheitlich deutschen Gemeindemitgliedern Ressentiments gegenüber anderen Glaubensrichtungen?
Eichler: Zum Glück nicht so oft und eher unterschwellig. Aber ich bekomme schon Vorurteile mit. Es ist wichtig, darüber ins Gespräch zu kommen und die Vorurteile als solche auch beim Namen zu nennen. Mir fällt auf, dass viele Menschen Parolen nachplappern. Es ist einfacher, einfache Sätze zu sagen, statt differenziert heranzugehen. Wir leben zwar in einer Informationsgesellschaft, tatsächlich bedroht uns aber die Gefahr der um sich greifenden Vereinfachung.
Herr Baltes, beim Lernmobil bringen Sie Migranten die deutsche Sprache bei – unter anderem. Erleben Sie Ressentiments bei Erwachsenen gegen dieses Deutschland?
Baltes: Die mag es vereinzelt geben. Wir sehen ja auch, dass Menschen, die hier aufgenommen wurden, sich trotzdem radikalisieren können. In der Summe muss ich sagen, für die Menschen, die unsere Einrichtungen besuchen, die Kitas, die Schulen, die sich in Vereinen engagieren, hat Deutschland einen hohen Stellenwert. Diese Menschen loben unsere Grundwerte, weil sie menschenwürdig sind. Deswegen kommen sie hierher. Und eben nicht ausschließlich der Sozialsysteme wegen. Zum Stichwort Sprache: Sprache ist Bildung, und die Menschen wollen diese Bildung.
Frau Emekci, es ist zwar eine Minderheit, aber es gibt Menschen, die sich nicht integrieren wollen. Das fängt bei der Weigerung, die Sprache zu lernen, an. Sehen Sie in mangelndem Integrationswillen ein Problem für die Gesellschaft?
Emekci: Ich sehe das Problem gar nicht so, wie Sie es beschreiben. Ich glaube schon, dass es vereinzelt diese Menschen geben könnte. Aber da die Zahl so schwindend gering ist, habe ich mir ehrlich gesagt nie Gedanken darüber gemacht. In den 1980er Jahren mag diese Zahl größer gewesen sein. Mittlerweile leben wir hier in der vierten und fünften Generation. Also bewegen wir uns in einem Umfeld, in dem ich keinen fehlenden Integrationswillen sehe.
Sie sprechen von Ihrem Umfeld. Kita-Erzieherinnen machen mit Kindern, die kein Wort Deutsch sprechen, andere Erfahrungen. Oder Grundschulen, wo Erstklässler beispielsweise wegen verletzter Ehre aneinandergeraten.
Emekci: Ich würde versuchen, es so zu erklären: Wir reden hier über eine neue Generation von Einwanderern oder geflüchteten Familien. Ich habe beim Lernmobil speziell mit geflüchteten Familien zu tun. Viele von ihnen sind doch noch gar nicht richtig angekommen. Denen geht es jetzt womöglich so, wie den Migrationsfamilien der 1980er Jahre. Sie sagen zunächst: Okay, wir sind hier – aber jetzt dürfen wir uns, unsere Kultur, unsere Sprache und unseren Glauben nicht komplett verlieren.
Bleiben wir nur noch mal bei den beiden Beispielen: Erzieherinnen und Lehrer hören es nicht gerne, wenn es heißt, schlechte Sprachkenntnisse oder kulturelle Unterschiede machten keine Probleme.
Emekci: Das habe ich auch nicht gesagt. Ich würde es nur nicht mit einem fehlenden Integrationswillen erklären.
Baltes: Bildungs- und Erziehungsinstanzen müssen sich grundsätzlich mit der steigenden Diversität auseinandersetzen und sich darauf einstellen.
Herr Eichler, erleben Sie in Ihrem Umfeld mangelnden Integrationswillen?
Eichler: Das erlebe ich so nicht. Ich glaube, es sind alle in dieser Frage gefordert. Wir können nicht allein von einer kulturellen Gruppe fordern, sich zu integrieren. Wir leben in einer gemeinsamen Gesellschaft, und es geht darum, dass alle auf Augenhöhe mit einander sprechen.
Ich habe kürzlich eine Viernheimerin, die Migranten ehrenamtlich bei der Ausbildung hilft, gefragt, ob sie auch auf Ablehnung stößt. Nein, sagte sie, zu ihr kämen ja nur solche Menschen, die sich integrieren wollten. Erfahren Sie das auch so? Gibt es diese gewisse, nicht ansprechbare Zahl?
Eichler: Die wird es mit Sicherheit geben, auch wenn ich solche Gruppen nicht erlebe. Es gibt immer Menschen, die sich einem guten Miteinander verweigern, egal welcher Herkunft. Ich finde, wir müssen die gegenseitige Wertschätzung fördern, so wie wir es mit dem Forum der Religionen tun. Das ist die beste Prävention gegen Vorurteile, Hetze und Fakenews. Und da sind wir alle gefordert.
Herr Baltes, ich finde Ihre Arbeit so notwendig wie hervorragend. Brauchen Sie noch Mitstreiter?
Baltes: Aber gerne, wir sind immer offen für Beteiligung.