
22 Apr Die Erfolgsgeschichte der „Klinkenputzer“
LERNMOBIL VIERNHEIMER EINRICHTUNG FÜR INTEGRATION DURCH BILDUNG IST 35 JAHRE ALT – EIN GESPRÄCH MIT DEN GRÜNDERN ÜBER DIE SCHWIERIGEN ANFÄNGE UND DIE GEGENWART
12. Februar 2021 Autor: Martin Schulte (mas)
Ärmel hochkrempeln – das mussten die Lernmobil-Gründer Brigitta Eckert und Gerd Baltes (r.) oft. Peter Lichtenthäler spricht für den Vereinsvorstand. © Bernhard Kreutzer
Viernheim. Es waren einmal vier arbeitslose Lehrer, und die hatten eine Idee. Nein, es ist kein Märchen. Aber fast so wunderbar. Wir erzählen hier die Erfolgsgeschichte des Viernheimer Lernmobils – dessen Anfänge alles andere als erfolgreich waren. Die Geschichte beginnt vor 35 Jahren in Viernheim, sie war zunächst geprägt von harter Arbeit, Aufopferung und Existenzängsten. Und Beharrungsvermögen. Bis heute hat das Lernmobil Tausenden von Kindern, Jugendlichen und später auch Erwachsenen die deutsche Sprache vermittelt und damit den Grundstein für die Integration der Menschen mit zumeist ausländischen Wurzeln gelegt. Weit über 100 Kräfte beschäftigt das Lernmobil aktuell in der Bildung, teils ehrenamtlich.
Für die vier jungen Leute war nach ihrem Referendariat an der Alexander-von-Humboldt- Schule (AvH) Schluss. Wie für viele andere. Mitte der 1980er Jahre waren 70 000 Lehrer arbeitslos in Deutschland,10 000 allein in Hessen. Es wurde gespart im Bildungswesen. Brigitta Eckert und Gerd Baltes waren zwei dieser frisch ausgebildeten Lehrer. Sie sind heute hauptberufliche Geschäftsführer des Lernmobils. Sie und ihre beiden Referendariat-Kollegen von der AvH wollten in der Bildung arbeiten, aber nicht kommerziell etwa mit Nachhilfe und Kursangeboten. Baltes: „Das wäre gegen die Ideologie gewesen. Wir wollten gemeinnützig sein.“ Also gefördert von der öffentlichen Hand zum Wohl von Kindern mit Sprachdefiziten. „Wir vom Bildungssystem Ausgegrenzten wollten uns mit der anderen Seite der vom Bildungssystem Ausgegrenzten beschäftigen“, sagt Brigitta Eckert. Die Vier gründeten den Verein „Lernmobil – Verein für pädagogische und soziale Bildungsarbeit“. Die beiden Mitstreiter von einst sind längst nicht mehr dabei. Der heutige Name „Lernmobil – Integration durch Bildung“ ist griffiger – und steht auch für die Weiterentwicklung der Institution. Eckert und Baltes berichten mit so großer Lebhaftigkeit von ihren Anfangsjahren, als wäre es gestern gewesen. Sie haben Ideen und Konzepte entwickelt. Und sie mussten an die Schulen herankommen: Wir helfen Migrantenkindern bei der Sprache, damit sie im Unterricht eine Chance haben. Wir betreuen die Kinder nachmittags. Viele Besuche, viele Gespräche. Ist Klinkenputzen dafür der richtige Ausdruck? „Und ob“, lacht Baltes, „ja, wir waren Klinkenputzer.“ Das Feilschen um eine Erhöhung des Dispokredits und die vielen Anträge auf Förderung schließt er mit ein.
Wende kommt im Jahr 2000
Im Bildungssektor haben sich in den 80er Jahren unzählige außerschulische Gruppen, Vereine und Initiativen getummelt. Da brauchte es Durchhaltevermögen. Ein Glück für das Team vom Lernmobil war Heinz Mandel, der pädagogische Leiter der AvH. Er fand die Konzepte gut und setzte sich für die Sache ein. Baltes schwelgt breit grinsend in Erinnerungen: „Es war schon gut, wie flott Manches lief, wenn er dabei war. Die Verantwortlichen bei der Sparkasse, bei der Stadtverwaltung und die Politiker waren dann immer sehr zugänglich. Schließlich hatten sie Mandel alle in der Schule. Es waren alle seine Buben.“ Damit war die wirtschaftliche Not des Vereins aber längst nicht erledigt. Gerd Baltes erzählt, wie er jede Landtagswahl mit Bauchschmerzen verfolgt hat – in der Furcht, neue Machtkonstellationen könnten wieder am Bildungssystem sparen. „Wir haben unsere Bezahlung immer den finanziellen Verhältnissen des Vereins angepasst. Aber nicht die Arbeitszeit“, sagt er. Die habe im Übrigen oft die Grenze der Aufopferung erreicht. „Wir sind mit den Kindern in die Freizeit nach Italien oder Frankreich gefahren, auf Zeltplätze. In unserer Freizeit und von unserem eigenen Geld. Heute sind wir Gott sei Dank anders aufgestellt, und wir können die Betreuer dafür bezahlen“, ergänzt Brigitta Eckert. Eine Wende in der dauerhaften Mittelknappheit markiert das Jahr 2000. Peter Lennert, damals Landtagsabgeordneter der CDU des Kreises Bergstraße, hat sich mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mittel für eine stabile Finanzierung des Lernmobils eingesetzt. Unterstützt von Norbert Hofmann (SPD), Viernheims Ex-Bürgermeister und seinerzeit Landrat in Heppenheim, und vom noch jungen Bürgermeister Matthias Baaß. Das Ergebnis war eine auf drei Säulen aufgebaute Unterstützung: Land, Kreis und Stadt.
Beweis der Leidenschaft
Baltes: „Und dann ging es aufwärts.“ Das bedeute nicht, heute nicht mehr um Geld kämpfen zu müssen, aber es sei kein Vergleich mit der Zeit vor 2000. Beim Stichwort Unterstützung betonen Eckert und Baltes mehrfach ihre Dankbarkeit gegenüber der Politik in Viernheim und vor allem dem amtierenden Bürgermeister.
Dass aus dem kleinen Verein von vor 35 Jahren ein mittelständisches Unternehmen werden konnte, liege auch an den unterschiedlichen Köpfen im Verein und seinem Vorstand, sagt Peter Lichtenthäler. Er ist seit 1997 in verschieden Funktionen bei Lernmobil e.V. ehrenamtlich tätig. Den Leuten mit ihrem jeweiligen Fachwissen sei es gelungen, neuen Ideen und Konzepten mit strukturellem Unterbau in der Organisation zum Erfolg zu verhelfen.
Hätte es vor 35 Jahren mit dem Lehramt am Gymnasium geklappt, wären Brigitta Eckert und Gerd Baltes heute locker Oberstudienräte. Auf die Frage, ob sie beim Lernmobil an die entsprechende Gehaltsstufe herankommen, müssen die beiden grinsen und den Kopf schütteln. Eckerts Augen leuchten: „Wissen Sie, für diese Arbeit müssen Sie brennen, da brauchen sie Leidenschaft.“ Man kann Leidenschaft sagen. Und man kann sie unter Beweis stellen. So wie die beiden Mitbegründer dieses ehemals kleinen Vereins.
© Südhessen Morgen, Freitag, 12.02.2021