30 Jahre LERNMOBIL

30 Jahre Lernmobil e. V.

 

4. Dezember 1985 – Gründungstag des Vereins Lernmobil e.V.  //  4. Dezember 2015 – 30 Jahre Lernmobil e.V.

 

1. Vereinsgründung

 

Die VereinsgründerInnen von damals berichten heute

 

„Wir helfen uns selbst und ändern das Los staatlich verordneter Lehrerarbeitslosigkeit“ war das Motto der Mitgliedsvereine der Dachorganisation L.O.S. – Lehrer organisieren Selbsthilfe.

 

Der Verein Lernmobil war einer der Gründungsvereine.

 

Im Gegensatz zum allgemeinen Selbsthilfebegriff war der der Lehrerselbsthilfe relativ neu. Bis Anfang der Siebzigerjahre war Lehrerselbsthilfe in der politischen Landschaft kein Thema. Studierende der Lehramtsstudiengänge konnten nach abgelegtem Examen immer mit einer Anstellung im staatlichen Schulwesen rechnen. Anfang der 80er-Jahre war aus Nichteinstellungen mittlerweile eine gravierende Lehrerarbeitslosigkeit geworden: 70.000 Lehrer(innen) waren arbeitslos.

 

Ein Grund für die Arbeitslosen, sich selbst zu organisieren und die zu unterstützen, die auch von Bildung ausgegrenzt wurden.

 

So entstanden hessen- wie auch bundesweit Selbsthilfeprojekte arbeitsloser Lehrer(innen), die von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft unterstützt wurden: „Die pädagogische Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, deren Schul- und /oder Berufskarrieren gefährdet oder gescheitert sind, führt aus der Orientierungslosigkeit, Vereinsamung und Demütigung der eigenen Arbeitslosigkeit oder Jobberei.

 

Ungefähr 300 nicht eingestellte PädagogInnen in Hessen beschaffen selbst Räume, Arbeitsmittel und Finanzierungen, um ihre berufliche Qualifikation nicht zu vergeuden“ (aus der Selbstdarstellung L.O.S. 1985).

 

Genauso erging es uns in Viernheim auch, wir wollten vor allem eins: pädagogisch arbeiten. Wir alle hatten schon vor dem Referendariat Erfahrungen in allen möglichen Hilfsjobs. Das wollten wir ändern.

 

Deshalb haben wir uns schon während des Referendariats den Kopf darüber zerbrochen, wie wir wenigstens einen Honorarjob im pädagogischen Bereich ergattern könnten. Zu der Idee gesellte sich der Zufall: Wir lernten den damaligen Stadtjugendpfleger Finkbeiner kennen, dem wir unsere Idee erzählten, und der sprach von einem Topf für Honorare für Hausaufgabenbetreuung. Fast zeitgleich lasen wir in der GEW-Zeitung über Menschen, die Ähnliches vorhatten. So fuhren wir in der ersten Zeit nach dem Referendariat kreuz und quer durch Hessen, um Menschen mit ähnlichen Ideen kennenzulernen und mit ihnen über die Umsetzung unserer Ideen und pädagogischen Vorstellungen zu diskutieren.

 

Spannend war die Zeit, weil man von Utopien beseelt war und sich daran machte, diese auch umzusetzen. Vielleicht auch, weil man nach dem Scheitern der politischen Utopien ein Bewusstsein erlangt hatte, dass eine gesellschaftliche Veränderung nur über die Bildung des Einzelnen erfolgen konnte.

 

Drei der vier Vereinsgründer(innen) hatten ihr Referendariat an der Alexander-von-Humboldt Schule absolviert. Deshalb lag es nahe, Menschen von dort für den Vorstand des neu zu gründenden Vereins Lernmobil zu gewinnen.

 

Vereinsgründer(innen) waren: Dr. Gerd Baltes /Dr. Brigitta Eckert / Verena Poppe-Watterodt /Monika Volk.

 

Herr Heinz Mandel, langjähriger pädagogischer Leiter der A.v.H., wurde Erster Vereinsvorsitzender und Herr Karl Brechtel 2. Vorsitzender. Hier war es uns gelungen, in Viernheim verankerte Persönlichkeiten mit einem guten Netzwerk für unsere Ideen zu gewinnen. Vielleicht auch ein Grund, warum Netzwerken im Verein Lernmobil bis heute so bedeutend ist.

 

Übrigens entschied man sich nach vielen Diskussionen für den Namen Lernmobil. Aus dem Namen sollte das Arbeitsfeld ersichtlich sein. Hinzu kam, dass damit ein Statement für lebenslanges Lernen gemacht wurde.

 

2. Das Leitziel 1985 – Integration durch Bildung

 

Das Leitziel des Vereins lautete seit der Vereinsgründung: Integration durch Bildung.

 

In der Rückblende kann man sagen, dass es mehrere Gründe für dieses Leitbild gab. In den Siebzigerjahren beschäftigten sich führende Pädagogen mit der Ausgrenzung von Kindern und Jugendlichen aufgrund der Schicht und der Geschlechtszugehörigkeit, deshalb war eine Sensibilität für dieses Thema aus dem Studium her bei den Vereinsgründer(inne)n vorhanden, hinzu kam die Reflexion der eigenen Bildungsbiografie wie auch im Referendariat erlebte Ausgrenzungssituationen von Kindern.

 

Integration durch Bildung übersetzt man heute mit Inklusion. Die inklusive Pädagogik beschreibteinen Ansatz, der im Wesentlichen auf der Wertschätzung der Vielfalt beruht. In einem inklusiven Bildungssystem lernen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund, mit und ohne Behinderungen von Anfang an gemeinsam. Der Begriff beschreibt das Konzept der Inklusion einer Gesellschaft, in der jeder Mensch akzeptiert wird und gleichberechtigt und selbstbestimmt an dieser teilhaben kann – unabhängig von Geschlecht, Alter oder Herkunft, von Religionszugehörigkeit oder Bildung, von eventuellen Behinderungen oder sonstigen individuellen Merkmalen.

 

Wir sahen es als die Aufgabe des Bildungssystems an, durch Bereitstellen von speziellen Mitteln und Methoden einzelne Lernende besonders zu unterstützen und zu fördern. Nicht das Individuum muss sich also an ein bestimmtes System anpassen, sondern das System muss umgekehrt die Bedürfnisse aller Lernenden berücksichtigen und sich gegebenenfalls anpassen (auch etwas gewagt, im Kern aber traditionelle Reformpädagogik).

 

Dies war das Gerüst für den Aufbau des Vereins Lernmobil.

 

3. „Ein Dach über dem Kopf muss her“

 

Angefangen hat der pädagogische Alltag mit einem Bleistift und einem Kind, das aus dem städtischen Betreuungsangebot übrig geblieben war, sowie der Nutzungsmöglichkeit von zwei Räumen im T.I.B., der gerade im selben Jahr, ja fast Monat in Betrieb genommen worden war.

 

Alles war neu für die Lehrer(innen). Wo bekommt man Geld für Materialien, für ein Telefon, für Stifte, eine Tafel, Papier? Die Zusammenarbeit hessenweit war hier sehr hilfreich. Es zeigte sich bald, dass die zwei Räume nicht ausreichend waren, wenn man mehr als Hausaufgaben machen wollte.

 

Die Gleise quasi vor bzw. hinter der Haustür legten den Gedanken nahe, Waggons zu kaufen. Aber wo gibt es diese zu welchem Preis? Leider gab es noch kein Internet, man musste telefonieren und telefonieren und irgendwann gab es den entscheidenden Hinweis: In Duisburg-Weddau kann man ausrangierte Bauwagen kaufen. Gehört, hingefahren und gekauft. Ermöglicht wurde dies durch einen

 

Zuschuss vom Sozialministerium. Die später hinzugekauften Waggons waren alte Postwagen aus Nürnberg. Alle Waggons wurden auf den Schienen hingebracht. Die Waggons wurden damals in Eigenregie von Mitarbeiter(inne)n, Eltern und Jugendlichen aus- und umgebaut.

 

4. Von einem Selbsthilfeprojekt zu einer Schülereinrichtung

 

Eigene Räume und Personalstellen waren die Säulen für die Entwicklung hin zu einer Schülerbetreuungseinrichtung, die zu einem festen Bestand der Viernheimer Bildungslandschaft wurde.

 

1987 war es endlich so weit. Die ersten drei ABM-Stellen waren erstritten. Es scheint absurd, aber es war so: Vonseiten des Arbeitsamtes versuchte man, andere als die Vereinsgründer(innen) auf die ABM-Stellen zu setzen, der Vereinsvorstand musste viele Bewerbungsgespräche dokumentieren und viele Gespräche führen, bis die Vereinsgründer(innen) ihre zunächst auf ein Jahr befristeten Stellen im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme ausgerechnet am 1. Mai , dem Tag der Arbeit, antreten konnten.

 

Der Verein Lernmobil und die anderen hessischen Lehrerselbsthilfeprojekte wurden recht berühmt.

Auch nach Viernheim kam das Fernsehen angesichts der dortigen großen Veranstaltung zur symbolischen Übergabe von 22 Stellen, nachdem der Topf im Land Hessen für die Hausaufgabenbetreuung ausländischer Kinder mehr als verdreifacht worden war.

 

Immer wieder wurden wir auch zu Radiosendungen eingeladen, gerade die Waggons waren ein gutes Aushängeschild, um ungewöhnliche Ideen zu transportieren.

 

In den folgenden zehn Jahren war die Stellensituation immer wieder abhängig von den politischen Konstellationen. Wenn man die Pressemitteilungen aus diesen Jahren liest, titelt die Mehrheit der Überschriften: „Kampf ums Überleben“ oder „Kampf gegen die Streichungen“.

 

Es dauerte zehn Jahre, bis auf die Initiative des damaligen CDU-Landtagsabgeordneten Dr. Lennert und des damaligen Landrats Hofmann und des Bürgermeisters Baaß ein Beschluss gefasst wurde, dass sowohl Land wie Kreis und Stadt die finanziellen Zuwendungen vervielfachen. Dies ermöglichte es, dass vier weitere Teilzeitstellen im Lernmobil am Bahnhof eingerichtet werden konnten. Bis dato waren sechzig Kinder von Personen mit drei Teilzeitstellen und Honorarkräften pädagogisch betreut worden.

 

5. Von einem Ort zum Aufbau differenter Bildungslandschaften

 

Der Verein Lernmobil hat seine pädagogischen Aufgaben nie auf den Bahnhof begrenzt gesehen, sondern sich immer als Teil einer differenten Bildungslandschaft gesehen. Dies kann man in vielen Schriften aus den 1990er-Jahren nachlesen.

 

1992 wurde auch durch die Unterstützung des Lernmobils die Humboldt-Schule zur Europaschule.

 

Der Verein Lernmobil war für die Ganztagsbetreuung zuständig. Dieses Modell war in Bezug auf die freiwillige Ganztagsbetreuung ein Vorläufermodell für die heutigen Modelle, die es vor allem im Grundschulbereich gibt.

 

Diese Kooperation raubte den Mitarbeiter(inne)n manche Illusion, gerade in Bezug auf die Schulpolitik. War im hessischen Schulgesetz von einer gemeinsamen Schulentwicklung von Schule und außerschulischem Träger gesprochen worden, so wich die Realität altbewährten Formen.

 

Vormittags Schule und nachmittags ein außerschulischer Träger. Diese Kooperation endete zwar nach fünf Jahren, war aber der Beginn der Auseinandersetzung um die Frage der Zusammenarbeit von schulischen und außerschulischen Bildungsträgern. Letztere Frage war auch Gegenstand der Promotionsarbeit der beiden Vereinsgründungsmitglieder Herrn Dr. Gerd Baltes und Frau Dr. Brigitta Eckert.

 

Im Jahre 2004 wurde der Verein Lernmobil e.V. Träger der Ganztagsbetreuung an der Nibelungenschule, im Jahre 2009 Träger der Ganztagsschulbetreuung an der Schillerschule und im Jahr 2012 Träger der Ganztagsbetreuung an der Schillerschule und der Goetheschule in Lampertheim.

 

Es gibt so zwei große Handlungsfelder, die der Verein heute ausfüllt, die natürlich auch miteinander in ihrem Zusammenwirken erkennbar sind:

 

• Die außerschulischen Betreuungsangebote an den 4 Grundschulen und im Hort am T.I.B. und differente Angebote im Integrationsbereich.

 

Die Gestaltung des pädagogischen Alltags der Betreuungseinrichtungen an den Schulen war geprägt von der Vision eines Paradigmenwechsels in Bezug auf Schule und außerschulische Bildungsträger.

 

Dies müsste aus heutiger Sicht heißen:

 

• Aufhebung der vielfach synonym gebrauchten Begriffe Bildungswesen/Schulwesen und

 

• eine Weiterfassung des Begriffs Bildungswesen

 

Trotz der Erkenntnis innerhalb der Diskussion, zwischen den verschiedenen Sozialisationsinstanzen das Aufwachsen und die Sozialisation von Heranwachsenden im Zusammenhang zu sehen, und davon abgeleitet ein Zusammenwirken der Einrichtungen anzustreben, fehlen weitreichende Ansätze, das Bildungs- und Erziehungssystem weiterzufassen und die aufgrund der funktionellen Differenzierung bestehenden Systemgrenzen aufzuheben. Es gibt heute allerdings zunehmend Ansätze, die in diese Richtung gehen. So beinhaltet ein Programmpakt für den Nachmittag Überschneidungssituationen:

 

Es werden Lernzeiten definiert, in denen beide, Trägerschule und außerschulischer Träger, zusammenarbeiten (ist aber nur der Eigeninitiative verdankt, nicht zwingend Paktinhalt).

 

Im Bereich Integration ist mit dem Projekt PFIVV dem Verein das größte am Gemeinwesen orientierte Integrationsprojekt gelungen. Neben Bensheim ist die Ausbildung in Lampertheim durchgeführt worden und wird im kommenden Jahr in Heppenheim begonnen. So sind fast 200 Menschen bisher zu Integrationslots(inn)en kreisweit ausgebildet worden. Wir starten in Viernheim im nächsten Jahr die vierte Ausbildungsrunde.

 

Eine weitere Säule sind die Integrationskurse. Im Jahr 2005 wurde der Verein Lernmobil e.V. zertifizierter Träger der Sprachkurse durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.

 

Heute bietet der Träger über zwanzig parallel laufende Sprachkurse an, seit Herbst dieses Jahres auch Integrationskurse für Flüchtlinge. Auch hier ist der Träger kreisweit aufgestellt.

 

Eine weitere Säule der Integration bilden die Elternbildungsprojekte, die Eltern qualifizieren möchten, den Bildungsweg ihrer Kinder besser fördern zu können.

 

Die gesamte Integrationsarbeit muss vernetzt in dem Gemeinwesen stattfinden, denn Integration kann nur gelingen, wenn alle Akteure eines Gemeinwesens miteinander arbeiten. Deshalb hat der Bürgermeister den Verein Lernmobil beauftragt, die Steuerung der interkulturellen Arbeit in Viernheim zu übernehmen.

 

Heute ist Viernheim nicht zuletzt auch dank der dreißigjährigen Arbeit des Vereins Lernmobil so gut aufgestellt, was die Arbeit mit den Flüchtlingen betrifft, weil man auf Strukturen zurückgreifen kann.

 

Man muss nur die Angebote ausweiten und ggf. fokussieren bzw. inhaltlich um die neue Zielgruppe der Flüchtlinge erweitern.

 

Visionen

 

Im Bereich der Schülerbetreuungen: ein aufeinander abgestimmtes Konzept, das nicht mehr das Primat in der Schulbildung sieht, sondern Bildung als Können definiert, was an ganz unterschiedlichen Orten stattfindet – im Gegensatz zu einem statischen Bildungsbegriff, der Bildung als Wissenstransfer definiert. Bildung muss für alle Personen herkunftunabhängig sein, und Bildung ermöglicht Menschen eine Orientierung und ein Sicheinsetzen auch in einer komplexen Welt.

 

Konkret bedeutet dies, dass Bildung Geld kostet, auch der außerschulische Träger muss tarifgerechte Löhne anbieten können. Es bedarf der entsprechenden Räume für die stetig wachsende Zahl von Kindern, damit pädagogisch sinnstiftende Arbeit im Interesse der Kinder ermöglicht wird und nicht nur Betreuung im Interesse berufstätiger Eltern.

 

Integration muss Pflichtaufgabe sein, kann nicht mehr von der Zufälligkeit der politisch Handelnden bestimmt sein, wie es über lange Jahre die Arbeit des Vereins Lernmobil geprägt hat.

 

Konkret heißt dies auch: Alle Lehrkräfte der Sprachkurse haben wie die Lehrer der Kinder feste Anstellungsverträge, damit man langfristig planen kann und auch Inhalte wie Personal entwickeln kann. Interkulturelle Vermittlerin ist ein Berufsbild, das man lernt.

 

Insgesamt haben wir alle akzeptiert, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und dass Menschen mit unterschiedlicher Hautfarbe, unterschiedlichem Glauben etc. dieses Land prägen. Wir sind uns aber bewusst, dass dies kein einfacher Weg ist, den wir immer wieder in Diskurs miteinander gehen werden.

 

Statistiken für die Vereinsarbeit:

 

57 fest angestellte Mitarbeiter(innen)

 

50 Honrorarkräfte

 

23 Dozent(inn)en für die Sprachkurse

 

26 Bildungspat(inn)en und 24 Interkulturelle Vermittler(innen) (nur in Viernheim)

 

452 Plätze im Grundschulbereich für Kinder in unseren Betreuungseinrichtungen

 

Teilnehmer(innen) gegenwärtig in den Sprachkursen:

 

190 Integrationskursteilnehmer(innen), 160 Flüchtlinge.

 

8 Väterseminare in diesem Jahr kreisweit

 

15 Elternbildungsseminare in Viernheim parallel zu den Vorlaufkursen